Keine Videovernehmung von Zeugen in ihrem „Wohnzimmer“
Der Oberste Gerichtshof stellt klar, dass eine Vernehmung von Zeugen unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung durch das erkennende Gericht gemäß § 277 ZPO die Anwesenheit des Zeugen beim auswärtigen (Rechtshilfe-)Gericht erfordert.
Die Klägerin wurde bei einem Unfall in Frankreich verletzt. Die beklagte Haftpflichtversicherung beantragte zum Beweis des Alleinverschuldens der Klägerin die Einvernahme einer in Frankreich wohnhaften Zeugin per Videokonferenz, weil diese aus – näher dargelegten – persönlichen Gründen keinen Termin bei Gericht wahrnehmen könne.
Das Erstgericht nahm von einer Videovernehmung der Zeugin an ihrem Wohnort Abstand und gab der Klage statt, nachdem ein Rechtshilfeersuchen nach Frankreich um Einvernahme der Zeugin erfolglos geblieben war.
Das Berufungsgericht hob das Urteil auf und trug dem Erstgericht eine neue Entscheidung nach Verfahrensergänzung durch Einvernahme der Zeugin per Videokonferenz an ihrem Wohnort auf. § 277 ZPO sei gleichermaßen auf die Einvernahme von Zeugen im Ausland anzuwenden und erfordere – wie auch im Inland – nicht, dass sich die zu vernehmende Person in einem Gerichtsgebäude aufhalte. Umstände, die ausnahmsweise eine Vernehmung durch einen ersuchten Richter erfordern würden, lägen nicht vor.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs der Klägerin Folge und stellte das Urteil des Erstgerichts wieder her. Zunächst unterstrich der Oberste Gerichtshof unter Hinweis auf Art 1 Abs 1 und Art 19 Abs 8 EuBVO 2020, dass die Zulässigkeit einer Videovernehmung außerhalb eines Gerichtsgebäudes auch im unionsrechtlichen Kontext nach nationalem Verfahrensrecht zu beurteilen ist.
Nach § 277 ZPO hat das Gericht nach Maßgabe der technischen Möglichkeiten statt der Einvernahme durch den ersuchten Richter (§ 328 Abs 1 ZPO) eine unmittelbare Beweisaufnahme unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung durchzuführen, es sei denn, die Einvernahme durch einen beauftragten oder ersuchten Richter wäre unter Berücksichtigung der Verfahrensökonomie zweckmäßiger oder aus besonderen Gründen erforderlich. Dieser gesetzlich normierte Vorrang der unmittelbaren Beweisaufnahme durch das erkennende Gericht im Weg der Videokonferenz (gegenüber der „klassischen“ Einvernahme im Rechtshilfeweg) gilt mangels Differenzierung im Gesetz unabhängig davon, ob sich die zu vernehmende Person im In- oder Ausland aufhält.
Der Oberste Gerichtshof betonte weiters, dass Zeugen grundsätzlich eine öffentlich-rechtliche Zeugnispflicht trifft, die die Pflicht umfasst, vor Gericht zu erscheinen. Lediglich die in § 277 ZPO nicht erwähnte Bestimmung des § 328 Abs 2 ZPO kennt eine Befreiung ganz bestimmter (etwa kranker) Zeugen von ihrer Pflicht, bei Gericht zu erscheinen. Da der Gesetzgeber damit nur unter den engen Voraussetzungen des § 328 Abs 2 ZPO ein Absehen von der Pflicht des Zeugen, vor Gericht zu erscheinen, als sachlich angemessen erachtet, umgekehrt aber § 277 ZPO nur auf die weiter gefassten Tatbestände des § 328 Abs 1 ZPO Bezug nimmt, liegt aus systematischer Sicht ein enges Verständnis von § 277 ZPO nahe. Das damit gebotene Verständnis, wonach der zu vernehmende Zeuge beim auswärtigen Gericht zu erscheinen hat, wird auch durch historische Auslegung gestützt. Auch noch bei Verankerung der (eingeschränkten) Möglichkeit zur Abhaltung einer „Videoverhandlung“ in § 132a ZPO im Jahr 2023 ist der Gesetzgeber in den Materialien davon ausgegangen, dass eine Einvernahme nach § 277 ZPO unter Anwesenheit des Zeugen bei Gericht erfolgen muss.
Da die Einvernahme der Zeugin in deren Wohnung per Video damit nicht in Betracht kommt, war im Ergebnis das klagsstattgebende Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.