Ärztliche Aufklärung einer kognitiv eingeschränkten Patientin
Ein Zahnarzt, der eine leichte Intelligenzminderung einer volljährigen Patientin, welche deshalb seine Aufklärung über einen kieferorthopädischen Eingriff nicht gänzlich versteht, weder erkennt noch erkennen kann, haftet mangels Verschuldens schadenersatzrechtlich nicht.
Bei der Klägerin war die Entfernung aller vier Weisheitszähne medizinisch indiziert. Der beklagte Zahnarzt führte den Eingriff auch lege artis (fachgerecht) durch. Allerdings blieb bei der Klägerin vorerst eine Funktionsstörung eines Gesichtsnervs zurück, was eine typische Komplikation einer solchen Operation ist.
Die Vorinstanzen wiesen das Schadenersatzbegehren der Klägerin ab, das sich unter anderem darauf gestützt hatte, sie habe mangels korrekter Aufklärung in die ärztliche Behandlung nicht gültig eingewilligt.
Der Oberste Gerichtshof wies die Revision der Klägerin zurück, weil die schadenersatzrechtliche Haftung eines Arztes nicht nur Kausalität, Adäquanz und Rechtswidrigkeit der Behandlung voraussetzt, sondern auch das Verschulden im Sinne einer subjektiven Vorwerfbarkeit seines Verhaltens. Der Oberste Gerichtshof erachtete die Ansicht als jedenfalls vertretbar, dass dem Arzt im hier zu beurteilenden Einzelfall der Nachweis seines fehlenden Verschuldens im Sinne des § 1298 ABGB gelungen ist:
Der Zahnarzt hatte im Aufklärungsgespräch die Klägerin richtig und vollständig – auch über das letztlich verwirklichte Risiko – aufgeklärt und dies vollständig dokumentiert. Die Klägerin hatte diese Aufklärung aber nur unvollständig verstanden, weil bei ihr eine Intelligenzminderung F70 ICD‑10 (leichte Intelligenzminderung ohne oder mit bloß geringfügiger Verhaltensstörung) vorliegt. Konkret hatte die Klägerin ein völlig unauffälliges Erscheinungsbild, man sah ihr keine kognitive Einschränkung an und sie zeigte weder in der Ordination noch beim Aufklärungsgespräch Verhaltensauffälligkeiten. Die Einschränkung der Klägerin und ihre allenfalls mangelnde Geschäfts- bzw Entscheidungsfähigkeit wurden vom Beklagten nicht erkannt und waren für einen Durchschnittszahnarzt auch nicht erkennbar. Dem Arzt ist auch nach §§ 24, 252 f ABGB in der Fassung des 2. ErwSchG (BGBl I 2017/59) kein besonderer, von der sonst geltenden Rechtslage abweichender Sorgfaltsmaßstab auferlegt, sondern diese Bestimmungen konkretisieren seine Handlungspflichten bei ihm erkennbarem möglichem Vorliegen von erheblichen – und nicht schon bei jedem Nichtverstehen einzelner Aspekte der Bedeutung und Folgen des Handelns zu unterstellenden – Einschränkungen der Entscheidungsfähigkeit seines Patienten. Hier hatte der beklagte Arzt objektiv und ex ante betrachtet keine Veranlassung, eine weitere Vertrauensperson, einen Angehörigen oder eine sonst nahestehende Person der Klägerin zum Aufklärungsgespräch beizuziehen.